Landes­fachstelle Präventionder Sucht­kooperation NRW

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Ursachen von Sucht und Abhängigkeit 

 

Titel (nach oben)

Ursachen von Sucht und Abhängigkeit  

Verfasser (nach oben)

Jutta Böhmer, Gerhard Bühringer, Theresa Janik-Konecny

Baden-Baden 1993; Expertise zur Primärprävention des Substanzmißbrauchs
Band 20 Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit  

Kurzbeschreibung (nach oben)

Es wird zunehmend deutlich, dass zur Entwicklung sinnvoller suchtvorbeugender Maßnahmen ein Verständnis der tieferen Ursachen von Sucht und Abhängigkeit vonnöten ist. Die Aktion Suchtprophylaxe NRW soll eine Sensibilisierung der Gesamtbevölkerung für die tieferen Ursachen von Sucht und Abhängigkeit einleiten, um bereits frühzeitig möglichen Suchtentwicklungen bei Kindern und Jugendlichen wirkungsvoller entgegenzutreten. Jede Sucht und Abhängigkeit trägt eine ihr eigene Geschichte in sich. Erst das Wissen und die Auseinandersetzung über mögliche Ursachen von Sucht ermöglicht ein Präventionsverständnis, das an den Bedürfnissen der Menschen orientiert ist und somit Grundlage für die suchtprophylaktische Praxis darstellt.  

Eindimensionale Konzepte (nach oben) 

Persönlichkeitspsychologische Konzepte (nach oben)

Ein Ansatz auf der Suche nach den Ursachen der Abhängigkeit ist der Versuch, Persönlichkeitseigenschaften in Beziehung zum Substanzmissbrauch zu bringen, um in letzter Konsequenz die "Suchtpersönlichkeit" (addiction prone personality) zu finden (Schenk, 1979), auch wenn dies bis heute nicht gelungen ist (Ellgring, 1990). Die Literatur weist hier ein weites Feld an widersprüchlichen Untersuchungsergebnissen auf.

Ziel des Ansatzes ist es, anhand der Persönlichkeitsstruktur drogengefährdete Personen frühzeitig ausfindig zu machen, um mit präventiven Maßnahmen der drohenden Abhängigkeit entgegenwirken zu können. Problematisch ist die Tatsache, dass die Persönlichkeitsvariablen im Gros der Untersuchungen erst an bereits auffällig gewordenen Drogenabhängigen erhoben wurden, so dass nicht mehr auszumachen ist, wie die zugrundeliegende Persönlichkeitsstruktur ausgesehen hat (Schmerl, 1984). Die Skala der vorgeschlagenen Persönlichkeitstypen ist umfangreich, sie reicht vom unangepassten Typ, der mit seiner Umgebung nicht zurechtkommt und sich daher in die Droge flüchtet, über die psychisch gestörte Persönlichkeit, die nicht in der Lage ist, ihre inneren Konflikte zu lösen und daher sich Abhilfe durch Drogenkonsum verschafft bis hin zu Zuckermans erlebnishungrigem "sensationseeker" (Zuckerman, 1978; Schenk, 1979), der immer auf der Suche nach noch stärkerer Stimulation ist.

Die empirischen Studien zu diesen Ansätzen sind in der Regel so aufgebaut, dass Personen mit umfangreichen Testbatterien auf bestimmte Persönlichkeitseigenschaften im Querschnitt untersucht werden. Meist wird eine Einteilung in Abstinente, Probierer bzw. Experimentierer und Konsumenten vorgenommen, wobei es in einigen Studien gelingt, diesen Gruppen anhand der Testergebnisse bestimmte Persönlichkeitskorrelate zuzuordnen. An dieser Stelle ist die Längsschnittstudie von Shedler & Block(199O) zu erwähnen, in der 101 Personen über einen Zeitraum von 15 Jahren (3. bis 18. Lebensjahr) insgesamt sieben Mal getestet wurden. Das Ergebnis zeigte deutliche Persönlichkeitsunterschiede zwischen den drei oben genannten Konsumtypen, die sich bereits von früher Kindheit an manifestierten. Während die Abstinenten eher furchtsame, passive, überkontrollierte Personen sind, sind die regelmäßigen Konsumenten als eher emotional labil, mit wenig Selbstvertrauen, beziehungsgestört und unkonzentriert charakterisiert. Die Experimentierer dagegen sind ausgeglichene Persönlichkeiten, die sich im Mittelfeld der Persönlichkeitsextreme aufhalten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind mit großer Vorsicht zu interpretieren, da u.a. die Stichprobe für die angewandte Methodik sehr klein war. Allerdings wird eine Reihe der Befunde auch durch Ergebnisse früherer Studien unterstützt (Brook et al., 1985; Kellam et al., 1980).  

Psychiatrische Konzepte (nach oben)

In ihrer Kernaussage berufen sie sich auf eine Persönlichkeitsstörung, die auch genetisch bedingt sein kann, und die als Syndrom zur Ursache für den Drogenkonsum wird (Schmerl, 1984). An dieser Stelle kann man auch die unter dem Risikofaktorenkonzept (vgl. 3.3) erwähnten Ansätze der Prädisposition und Vulnerabilität einer Person einordnen. Drogenkonsum wird als eine Art Selbstheilungsversuch (Battegay, 1972; Greaves, 1983) oder als natürliche Folge der anlage- und entwicklungsbedingten Charakterschwäche (Battegay, 1972) angesehen.  

Psychoanalytische Konzepte (nach oben)

Im psychoanalytischen Erklärungskonzept wird Substanzmissbrauch als Symptom einer neurotischen Persönlichkeitsstörung klassifiziert, wobei zusätzlich eine "Prämorbidität" der Persönlichkeit, d. h. eine besondere Anfälligkeit des Menschen gegenüber Sucht, angenommen wird (Bäuerle, 1989; Wöbcke, 1987). Die Prämorbidität wird durch eine Störung in der individuellen Entwicklung bedingt. In der Regel ist damit eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung gemeint. Folge der Beziehungsstörung ist die Verunsicherung des Kindes in seinem Vertrauen zur Mutter, woraus zum einen ein übersteigertes Befriedigungsverlangen und Sicherheitsbedürfnis, zum anderen eine ständige Angst vor neuen Enttäuschungen resultiert (Bäuerle, 1989). Die Folge davon ist, dass die Belastbarkeit des Individuums stark vermindert ist. Es hat Schwierigkeiten, Spannungen und Frustrationen zu ertragen. Es neigt deshalb verstärkt dazu, bei Belastungen auf eine frühkindliche Entwicklungsstufe zu regredieren und auf entsprechende Bedürfnisbefriedigungen zurückzugreifen, wie zum Beispiel das Verschaffen von schnellem Lustgewinn.

Einen anderen Akzent im psychoanalytischen Konzept der Suchtentstehung setzt der Ansatz des narzißtisch gestörten Suchtkranken (Grond, 1989). Hier wird eine nicht vollzogene Lösung aus der Symbiose mit der Mutter zugrundegelegt, die zur Folge hat, dass das Individuum narzißtisch bleibt. Diese Persönlichkeit ist charakterisiert durch geringes Selbstwertgefühl, Furcht vor Enttäuschungen, Schwanken zwischen Größenfantasien und Minderwertigkeitsgefühlen, zu hohen Ansprüchen an die eigene Person, Realitätsverkennung, Schwierigkeiten im Umgang mit Aggression und Angst vor Beziehungen. Der Weg in die Sucht wird als Akt der Selbstverwirklichung und Selbsttherapie interpretiert. Die Schwäche des psychoanalytischen Ansatzes liegt vor allem in der mangelnden empirischen Untermauerung. In der Regel werden hierzu Fallstudien herangezogen, wobei die Beweisführung nach Schmer(1984) lediglich Interpretationsarbeit darstellt, die wiederum dem einschränkenden Denkmuster des Forschers unterliegt. Hinzu kommt, dass die Theorie nicht schlüssig erklären kann, wie die Lücke zu schließen ist, die sich zwischen frühkindlich erworbenen Prädispositionen und dem viel später im Leben auftretenden Substanzmissbrauch ergibt.  

Prozess- und interaktionsorientierte Konzepte (nach oben) 

Trias-Konzept (nach oben)

Das Trias-Modell, das bereits Anfang der 1970er-Jahre von Kielholz und Ladewig formuliert wurde (Kielholz & Ladewig, 1973), basiert auf der Annahme, dass Drogenmissbrauch ein Resultat des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren in der Person, der Umwelt und der Droge ist. Somit kann dieses Konzept auch als Rahmen gesehen werden, in den eine Vielzahl von Modellen unterschiedlichster Genese eingeordnet werden könnten. Da das Konzept sehr allgemein gehalten ist, ohne ein explizites Ursachen-, Bedingungs- oder Interaktionsgefüge aufzuzeigen, kann nur aufgelistet werden, welche Variablen den drei Hauptelementen zuzuordnen sind.

Unter dem Faktor Person subsumieren sich sowohl körperliche (z.B. Erbanlagen) als auch psychische Variablen (z.B. Persönlichkeitseigenschaften). Dem Faktor Umwelt zuzuordnen sind soziokulturelle Einlüsse wie z.B. Konsumverhalten, Einstellung gegenüber Drogenkonsum, soziale Schichtzugehörigkeit, allgemeine Lebensbedingungen, Familienstruktur, Arbeitssituation sowie der Einfluss sozialer Gruppen (Nöcker, 1990). Den Faktor Drogen bedingen die spezifischen Wirkungen der Drogen, die Art und Dauer der Einnahme sowie die Höhe der Dosis.  

Lernpsychologische Konzepte (nach oben)

Die lernpsychologischen Konzepte gehen grundsätzlich von der Annahme aus, dass sowohl normales als auch abweichendes Verhalten aufgrund der gleichen Lernprinzipien erworben wird (Wöbcke, 1977) und betonen dabei in der Hauptsache die externe Determination des Suchtverhaltens unter Berücksichtigung kognitiver und affektiver Aspekte. Zur Erklärung des Beginns und der Aufrechterhaltung des Drogenkonsums sowie des Rückfalls in die Abhängigkeit nach Zeiten der Enthaltsamkeit werden in der Hauptsache die klassischen Leerprinzipien wie die klassische und operante Konditionierung sowie das Lernen am Modell herangezogen (Bühnnger, 1990).

Für den Weg in die Sucht wird der initiale Konsum von Drogen als sehr entscheidend angesehen. Da auf der pharmakologisch-physischen Ebene beim erstmaligen Gebrauch von Drogen in den meisten Fällen keine angenehme, d.h. positiv verstärkende Wirkung eintritt, sondern eher eine unangenehme Wirkung wie z.B. Geschmacksaversionen oder Übelkeit, spielen das Umfeld und die Erwartungen des Konsumenten eine wichtige Rolle. Nach dem Prinzip des Modellernens erfährt der Erstkonsument durch Beobachten des Konsums bei z.B. Freunden die positiven Folgen des Drogengebrauchs. Der Eindruck ist um so stärker, je anerkannter und geschätzter die beobachtete Person ist. Hinzukommen kann als sekundäre Verstärkung der Zugang zu sozial attraktiven Gruppen, der durch den Drogenkonsum erwartet wird oder aber, falls man bereits in dieser Gruppe integriert ist, die positive Verstärkung durch die Gruppenmitglieder. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass der weitaus größte Anteil von Heroinkonsumenten beim Erstkonsum nicht allein war, sondern von Freunden bzw. Bekannten eingewiesen wurde (Revenstorf, 1987). Die genannten positiven Folgen können ausschlaggebend sein für die Fortführung des Konsums, der zunächst zu angenehmen pharmakologischen Auswirkungen (Stimulierung/Sedierung) führt. Früher oder später jedoch kommt es zur körperlichen Toleranz und damit auch zu Entzugserscheinungen, wenn die nötige Drogenmenge nicht aufgenommen wird. Negativ verstärkend wirkt dann die Beseitigung der Entzugssymptome durch erneuten und gesteigerten Konsum. Die oben genannten positiven sozialen und körperlichen Folgen werden dann als besonders stark empfunden, wenn die Situation des Konsumenten seit längerer Zeit schon schwierig und emotional negativ besetzt war (Schul-, Arbeitsbelastungen, Probleme mit den Eltern, dem Partner etc.) (Bühringer, 1990). Das gesamte Verhaltensrepertoire einer Person richtet sich allmählich immer mehr auf den Erwerb und Konsum von Drogen aus. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Verhaltenskompetenzen der Person schon vorher unzureichend waren (z.B. Unsicherheit, geringe Selbstwirksamkeitserwartung) und dadurch im täglichen Leben eine Vielzahl von Misserfolgserlebnissen gemacht wurden. Es herrscht also gewissermaßen ein "Verstärkerdefizit", das nun durch die positive Verstärkerwirkungen des Drogenkonsums ausgeglichen wird (Revenstorf, 1987).

Zahlreiche Einzelaspekte des lerntheoretischen Erklärungskonzepts, wie etwa die verschiedenen Lernprinzipien, sind durch experimentelle Untersuchungen mit Tieren und Menschen sehr gut untersucht. Auch kann man mit dem Modell im klinischen Einzelfall die Entwicklung eines abhängigen Verhaltens analysieren und die verschiedenen vorausgehenden und nachfolgenden Bedingungen gut bestimmen. Dennoch kann ein solches komplexes Modell, allein schon aus ethischen Gründen, als Ganzes nicht empirisch validiert werden.  

Entwicklungspsychologische Konzepte (nach oben)

Eine Reihe von Autoren (Silbereisen & Kastner, 1984; Silbereisen, 1990; Kandel et al., 1978; Kandel et al., 1987) haben den Versuch gemacht, Drogenkonsum in Zusammenhang mit Lebensabschnitten und Lebensereignissen zu bringen. Kandel (1983, Kandel et al., 1978) stellt die Hypothese auf, dass das Drogenverhalten bestimmten kulturell bedingten Entwicklungsstadien unterliegt. Dabei spielen jeweils unterschiedliche Kausalfaktoren eine Rolle. In den ersten Stadien des Drogenkonsums sieht Kandel vor allem soziale Einnüsse als entscheidende Variablen an, z.B. hat sich herausgestellt, dass in der ersten Phase des Konsums der elterliche Umgang mit Alkohol oder Tabak für den Alkohol- bzw. Tabakkonsum der Kinder Mitbedingung ist. In der darauffolgenden Konsumphase spielen gleichaltrige Freunde eine ähnliche Rolle, auch in Hinblick auf den Konsum von illegalen Drogen. In späteren Lebensjahren sieht Kandel den hauptsächlichen Einfluss weniger in sozialen als vielmehr in innerpsychischen Faktoren. Dem Konzept von Silbereisen & Kastner (1984) liegt der entwicklungspsychologische Gedanke zugrunde, dass Drogenkonsum eine ganz bestimmte Funktion bei der Bewältigung von Entwicklungsstufen im Lebensverlauf eines Jugendlichen einnimmt. Aufgrund der Ergebnisse zahlreicher internationaler Längsschnittanalysen entwickelten Silbereisen et al. sechs Funktionen des Drogenkonsums im Entwicklungsprozess Jugendlicher: 

(1) als bewusste Normverletzung, als Ausdruck einer nonkonformistischen Haltung;
(2) zur Demonstration von Erwachsensein;
(3) als Spielart exzessiv-ritualisierten Verhaltens;
(4) als Ausdruck des Mangels an Selbstkontrolle, der durch fehlende Problemlösungskompetenzen und frustrierende Situationen zustande kommt;
(5) als Zugang zu Peer-Gruppen und schließlich
(6) als Notfallreaktion auf Entwicklungsstress, indem ein Ersatzziel für nicht bewältigbare Entwicklungsanforderungen gesucht wird.

Drogenkonsum wird somit als eine Strategie unter anderen interpretiert, mit der Jugendliche entwicklungsbedingte Belastungen zu bewältigen versuchen. Hinzu kommt, dass das Erlernen des Umgangs mit Drogen, vor allem mit Alkohol, durchaus zu Entwicklungsaufgaben gehört, die von der Gesellschaft erwartet werden. (Hurrelmann & Hesse (1991) kommen unter oben genannten Voraussetzungen zu folgenden Schlussfolgerungen:

1) Drogenkonsum ist eine durchaus normale "Ausdrucksform der individuellen Verarbeitung der Lebensrealität". Zugleich ist er aber auch

2) eine "problematische Form der Realitätsverarbeitung insofern, als Menschen damit einen Weg der Manipulation ihrer psychischen, sozialen und körperlichen Befindlichkeit einschlagen", der ihnen schließlich mehr schadet als nützt und eigentlich bedeutet, dass das Repertoire an Lebenskompetenzen unzureichend ist. Auch hier wird nochmals die Grundthese der entwicklungspsychologischen Ansätze deutlich, dass Drogenkonsum individuell unterschiedlich bewertet werden muss.

Ein weiteres Modell, das im Wesentlichen dem Bereich der Entwicklungspsychologie zuzuordnen ist, wurde von Hurrelmann (1991) entwickelt. Es bildet einen Rahmen nicht alleine für die Entwicklung der Substanzabhängigkeit, sondern stellt den Zusammenhang von Belastung, Bewältigung und Gesundheit sowie Krankheit im Jugendalter dar. Ausgangspunkt ist für Hurrelmann die Tatsache, dass der Jugendliche einer Vielzahl an Entwicklungsaufgaben gegenüber steht "die das ganze Spektrum von körperlichen, physiologischen, psychologischen und sozial-kulturellen Kapazitäten des Individuums herausfordert und nach ständigen aktiven Anpassungsleistungen verlangt" (Hurrelmann, 1991). Die Belastungen, die ein Kind dabei zusätzlich noch bewältigen muss, sind in den letzten Jahrzehnten im Zuge zunehmender Individualisierung deutlich gestiegen. In diesem Zusammenhang werden genannt: ungesicherte Beziehungen innerhalb der Familie (hohe Scheidungsraten), veränderte Lebens- und Berufsperspektiven der Eltern, die auf Kosten der physischen, psychischen und sozialen Pflege der Kinder gehen können. Hinzukommen die hohen Leistungsanforderungen in der Schule, die eine gro8e Belastung für die Jugendlichen darstellen, wie in zahlreichen Studien belegt werden konnte (Hurrelmann et al., 1989; Hurrelmann, 1989). Als weitere Risikokonstellationen nennt Hurrelmann die übergroßen Freiheiten zur Entwicklung eines eigenen Lebensstils, die Jugendliche oft überfordern und nicht zuletzt die zunehmenden Umweltprobleme, die eine beängstigende Zukunftsperspektive liefern. Fallen nun für den Jugendlichen eine Vielzahl von Belastungskonstellationen zusammen, dann kann er je nach persönlicher Disposition und dem Grad der sozialen Unterstützung diese entweder auf seine Art bewältigen oder er ist physisch und psychisch überfordert und es kann zu Störungen im psychosozialen und psychosomatischen Bereich sowie auch zu Suchtverhalten kommen.  

Sozialpsychologische Konzepte (nach oben)

Unter dieser Überschrift ist insbesondere die "Theorie des Problemverhaltens" von Jessor & Jessor (1983, 1977) zu nennen, die genaugenommen eine Kombination aus entwicklungs- und sozialpsychologischen Elementen darstellt. Ihre Komponenten sind die Persönlichkeit, die Umwelt und das Verhalten, aus deren Wechselbeziehung ein dynamischer Zustand resultiert, der als "Anfälligkeit für Problemverhalten" bezeichnet wird. Als Variablen der Persönlichkeit gelten Werte, Erwartungen, Überzeugungen, Einstellungen zu sich selbst und zu anderen. Variablen der Umwelt sind Unterstützungspotenziale, sozialer Einfluss und Kontrolle, Verhaltensmodelle und soziale Erwartungen. Aus der Wechselbeziehung der Persönlichkeits- und Umweltvariablen resultiert das Verhalten, wobei keinem der beiden eine ursächliche Priorität zugeschrieben wird. Das Problemverhalten erfüllt nach Jessor & Jessor bestimmte Funktionen (z.B. Opposition zur Gesellschaft, Solidarität mit Gleichaltrigen etc.) und kann als Versuch, Ziele zur erreichen, die auf anderen Wegen unerreichbar geblieben wären, gewertet wer- den. Jessor & Jessor führten selbst zur Untermauerung ihrer Theorie eine Reihe von Untersuchungen durch (z.B. Jessor & Jessor, 1978), in welchen sie unter anderem auf dem Hintergrund ihrer Theoriekomponenten Unterschiede zwischen Drogenkonsumenten und Nichtkonsumenten herausarbeiteten. Zusammengefasst lassen sich Persönlichkeitsdifferenzen auf der Dimension Konventionalität versus Unkonventionalität ansiedeln. Hinsichtlich der Unterschiede in den Umweltvariablen hat sich bei den Konsumenten eine geringe Unterstützung durch die Eltern, ein größerer Einfluss seitens der Freunde als seitens der Eltern, eine geringe Vereinbarkeit der Erwartungen von Eltern und Freunden und eine größere Akzeptanz des Drogenkonsums im Freundeskreis herausgestellt. Jessor & Jessor halten ihre Theorie auch für geeignet, andere Formen abweichenden Verhaltens zu erklären.  

Soziologische Konzepte (nach oben)

Die soziologischen Erklärungsansätze fokussieren auf das gesellschaftliche Umfeld des Individuums und dessen Auseinandersetzung damit. Nach Kutsch & Wiswede (1980) sind die häufigst zitierten Theorien zur Erklärung abweichenden Verhaltens, die auf die Substanzabhängigkeit angewandt werden, die Anomietheorie, die Zuschreibungstheorie (labeling approach) sowie die Theorie der differentiellen Assoziation (siehe auch Lukoff, 1983). Die zugrundeliegende Annahme der Anomietheorie ist, dass es sowohl kulturell vorgegebene Ziele als auch institutionell vorgegebene Wege gibt, auf welchem die Ziele zu erreichen sind. Abweichendes Verhalten entsteht immer dann, wenn der Zugang zu diesen Wegen blockiert ist und somit die Ziele nicht erreichbar sind oder wenn die Ziele grundsätzlich abgelehnt werden. Die Labeling-Theorie (Goffman, 1967) bietet nicht in erster Linie eine Erklärung für die Entstehung der Sucht, sondern eher für deren Aufrechterhaltung. Die Vorstellung ist hier, dass der Drogenkonsument von der Gesellschaft etikettiert bzw. stigmatisiert wird z.B. zum Asozialen, zum Charakterschwachen, zum Kriminellen, er dadurch mit bestimmten Reaktionsformen konfrontiert ist und er sich daraufhin immer weiter in seine abweichende Rolle verstrickt. Die Theorie der differentiellen Assoziation geht davon aus, dass abweichendes Verhalten in erster Linie innerhalb sozialer Gruppen, vor allem solcher, die diesem Verhalten positiv gegenüberstehen, erlernt wird.

Eine mehr dynamische Betrachtungsweise vetritt unter den soziologischen Ansätzen das sogenannte "Karriere-Modell" (Berger et al., 1980), das im Verlauf der 1950er- und 60er-Jahre auf die Erklärung abweichenden Verhaltens, so auch des Drogenkonsums, angewendet wurde.  

Sozialisationstheoretische Ansätze (nach oben)

"Die neueren sozialisationstheoretischen Ansätze bemühen sich darum, die komplexe lebensweltliche und lebensgeschichtliche Verflechtung der Entstehung von sozialer und psychischer Auffälligkeit und körperlicher Beeinträchtigung herauszuarbeiten und zugleich diesen Prozess als einen schrittweisen und ständigen Veränderungen unterliegenden Entwicklungsprozess zu analysieren" (Hurrelmann, 1988). In seinem "Modell für den stufenweisen Entstehungsprozess sozialer Abweichung, Verhaltensauffälligkeit und Gesundheitsbeeinträchtigung" trägt Hurrelmann (1988) diesem Ansatz Rechnung. Er geht dann grundsätzlich von dem Zusammenwirken von Persönlichkeits- und Umweltmerkmalen aus.

Stufe 1 im Entstehungsprozess bilden die Entwicklungsaufgaben, die ein Heranwachsender zu bewältigen hat,(z.B. Schulleistungen, Ablösung vom Elternhaus, wofür ihm sowohl personale und soziale Ressourcen zur Verfügung stehen oder nicht.

Nun kann es in Stufe 2 zu Problemen bei der Lösung dieser Aufgaben kommen, eine Reihe von Risikofaktoren wie Schulversagen, Konflikte mit den Eltern etc. kommen hier zum Tragen. Wieder hängt der weitere Fortgang der Entwicklung von den personalen und sozialen Ressourcen ab, die vorhanden sind.

Sind sie nur unzureichend vorhanden, kommt es in Stufe 3 zum Auftreten von Symptomen der Verhaltensauffälligkeit (z.B. Drogenmissbrauch) und auch hier werden die Weichen wieder durch Verfügbarkeit personaler Kompetenzen oder sozialer Unterstützung zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten gestellt.

Im ungünstigen Fall kommt es in Stufe 4 zur Verfestigung und Verstärkung der Symptome und die Entwicklung geht in Richtung "abweichende Karriere". An jeder Stelle des Modells, an der auf die Ressourcen zurückgegriffen wird, ist es möglich den ungünstigen Entwicklungsprozess positiv zu verändern, sofern diese effektiv genutzt werden können.  

Risikofaktoren-Konzepte (nach oben)

Strenggenommen darf das Risikofaktorenkonzept nicht unter der Überschrift "Ursachen des Drogenkonsums" subsumiert werden, da es sich bei Risikofaktoren zunächst nur um einen korrelativen Zusammenhang zweier Erscheinungen handelt. Ob der Zusammenhang Risikofaktor - Verhalten ein kausaler ist und wenn ja, wie stark er ist, lässt sich aus der Mehrzahl der Studien gar nicht oder zumindest nicht eindeutig beantworten, da es sich in der Regel um Querschnitts-Untersuchungen handelt, die nur den Status zu einem bestimmten Zeitpunkt erfassen. Validere Aussagen über Kausalzusammenhänge oder Entwicklungsprozesse erfordern sehr viel mehr Forschung. Dazu sind vor allem Längsschnittstudien notwendig, die bisher erst in relativ geringem Umfang durchgeführt wurden. Letztendlich wird mit den Risikofaktoren-Konzepten der Tatsache Rechnung getragen, dass eine eindeutige Erklärung für das Zustandekommen einer Krankheit durch einen einzelnen Faktor nicht möglich ist (Hurrelmann, 1991).  

Biologische Risikofaktoren (nach oben)

In den letzten Jahren hat besonders in den USA die Forschung zum Bereich der biologischen Suchtdeterminanten große Fortschritte gemacht (DuPont, 1989). Festgestellt wurde dabei folgendes:

Es gibt empirische Hinweise (u.a. Zerbin-Rüdin, 1986; Propping, 1983), dass zumindest für einige Suchtformen Erbfaktoren eine Rolle spielen und daher bestimmte Personen eine höhere Vulnerabilität besitzen, was aber zumindest derzeit nicht die Schlussfolgerung zulässt, dass es auch "suchtimmune" Personen geben könnte. Eine Reihe von Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien zur Alkoholismusgenese lassen es als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen. Allerdings liegt es auch hier nahe, eine Wechselwirkung zwischen genetischer Disposition und Umweltfaktoren anzunehmen (Propping, 1983). So fanden Cadoret et al. (1989) eine enge Verbindung zwischen Genotyp und Umwelt heraus. Sie untersuchten Eltern, die in ihrer Biografie delinquente Phasen aufzuweisen hatten, und deren Kinder, die zur Adoption freigegeben waren. Sofern diese Kinder in einer Adoptionsfamilie mit niedrigem sozialen Status untergebracht waren, fand man bei ihnen gehäuft das Auftreten von Alkoholmissbrauch und andere Anzeichen einer geschädigten Persönlichkeit.

Nach der Entdeckung der Opiatrezeptoren und der Endorphine - körpereigenen, opiatähnlichen Stoffen - wurde vermutet, dass das endogene Opiatsystem auch an der Entwicklung einer Substanzabhängigkeit beteiligt ist, was aber bis heute noch nicht schlüssig belegt werden konnte (Simon, 1983). Zu dem Bereich der neurophysiologischen, neurologischen und biochemischen Grundlagen der Substanzabhängigkeit finden international sehr rege Forschungsaktivitäten statt.

Bei Personen, die schon einmal körperlich von einer Substanz (hier ist vor allem Alkohol gemeint) abhängig waren, bleiben biologische Unterschiede bestehen im Vergleich zu Personen, die niemals abhängig waren.  

Psychische Risikofaktoren (nach oben)

Nachdem sich die Suche nach der Suchtpersönlichkeit als wenig ergiebig herausgestellt hatte (vergl. 3.1), konzentrierte sich die Suche im Rahmen des Risikofaktorenkonzepts mehr auf einzelne Persönlichkeitsaspekte bzw. Merkmalskombinationen, die möglicherweise im Zusammenhang mit dem Drogenmissbrauch stehen könnten. Die Studien wurden über klassische Ansätze hinaus ausgeweitet auf die mangelnde Bewältigung von Lebenssituationen, z.B. eine unzureichende Stressbewältigung.

  • Psychopathologische Faktoren
    In einer Reihe von Untersuchungen wurde versucht, einen korrelativen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstörungen von Drogenabhängigen und dem Substanzmissbrauch darzustellen (Craig, 1982). Übereinstimmende Resultate in bezug auf gravierende Störungen der Persönlichkeit von Abhängigen legen daher die Vermutung nach hochkorrelativen Zusammenhängen zwischen abnormer Anpassung und schweren Formen der Substanzabhängigkeit nahe (Swaim et al., 1989).

  • Persönlichkeitseigenschaften (traits)
    Der Ansatz über charakteristische Merkmalskombinationen von Persönlichkeitseigenschaften bei Abhängigen ließ sich bisher nicht bekräftigen, zu wenig eindeutig sind die empirischen Belege.

  • Emotionale Aspekte mangelnder Lebensbewältigung
    Hinter diesem Ansatz steht die Annahme, dass emotionaler Stress aufgrund von Angst, Depressionen oder anderen Formen psychischer Beeinträchtigungen der Auslöser für den Konsum von Drogen sei, mit dem Ziel den unangenehmen Befindlichkeitszustand zu verbessern. Swaim et al. (1989) untersuchten an 563 High-School-Studenten den Zusammenhang zwischen den Stressvariablen Selbstvertrauen, Depression, Ängstlichkeit, Entfremdung, Ärger und dem Drogengebrauch. Das Ergebnis brachte keine Bestätigung der oben genannten Hypothese, was sich auch in anderen Studien gezeigt hatte (White et al., 1986; Ginsberg & Greenley, 1978). Die Autoren folgern aus ihren Befunden, dass der Konsum von Drogen, als einem Mittel der Selbstmedikation bei emotionalem Stress, eher bei Erwachsenen als bei Jugendlichen zu finden ist.

Diese Meinung findet sich jedoch nicht überall in der Literatur wieder, denn vor allem in Untersuchungen zum Zigarettenkonsum wird Stress oft als auslösender Faktor herausgestellt. Raucher berichten über erhöhten Zigarettenkonsum in Zeiten besonderer Belastung und Anspannung, was die Schlussfolgerung nahelegt, dass Rauchen eine Technik ist, mit Streß besser umzugehen (Pomerleau & Pomer- leau, 1991). Billings et al. (1983) verglichen erwachsene Raucher mit Nichtrauchern und fanden heraus, dass die besonders starken Raucher im Gegensatz zu den Nichtrauchern wesentlich höhere Angst- und Depressionswerte erreichten. Unterstützt wurden diese Ergebnisse auch von Laboruntersuchungen (Schachter, 1978), die den Zusammenhang zwischen Stressauslösern wie zum Beispiel Flugzeuggeräusche, Sprechen in der Öffentlichkeit und erhöhtem Zigarettenkonsum nachgewiesen haben. Allerdings ist noch nicht geklärt, ob der entscheidende Punkt für die Stressreduktion die Nikotinzufuhr oder das Rauchverhalten an sich ist. Den Zusammenhang von Depressivität und Konsum von weichen und harten Drogen untersuchten Paton et al. (1977) im Längsschnitt, allerdings nur über ein Jahr, an einer Stichprobe von etwa 5.500 High-School-Studenten. Dabei zeigte sich, dass bei den Studenten mit Beginn des Konsums von Marihuana auch eine depressive Stimmungslage einherging, wobei hier die Frauen signifikant höhere Werte erreichten. In Bezug auf härtere Drogen konnte eine Verminderung der Depressivität im Verlauf ihrer Konsumzeit festgestellt werden. Die Autoren interpretieren ihre Ergebnisse vorsichtig dahingehend, dass Depressivität nicht als die Ursache für Drogenkonsum anzusehen ist, sondern lediglich ein Risikofaktor für den Drogenkonsum.

Insgesamt muss der emotionale Einflussbereich als völlig ungenügend erforscht betrachtet werden (Lopez & Fuchs, 1990).  

Familiäre Risikofaktoren (nach oben)

Risikofaktoren im Bereich der Familie lassen sich folgendermaßen kategorisieren: Familiengeschichte Kinder von Eltern (vor allem Vätern), die selbst exzessiv Alkohol konsumiert haben, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, selbst verstärkt Alkohol zu trinken. Welchen Anteil jeweils Vererbung und Lernerfahrung am Zustandekommen des Alkoholmissbrauchs haben, ist noch nicht geklärt. Es zeichnet sich allerdings aus der Zwillings-Forschung ab, dass genetische Faktoren einen größeren Einfluss haben als bisher angenommen wurde, vor allem bei Männern (vgl. 3.1). Jugendliche mit Eltern oder Geschwistern, die antisoziales Verhalten zeigen, unterliegen ebenfalls einem erhöhten Risiko, Drogen zu nehmen(Robins, 1966).

  • Erziehung
    Bei Eltern, die nur sehr gering entwickelte Fähigkeiten haben, mit ihren Kindern adäquat umzugehen (Erziehungsstile), ist das Risiko höher, dass ihre Kinder Drogenprobleme entwickeln (Kumpfer & DeMarsh, 1985; Penning & Barnes, 1983). Nach Hornung et al. (1983) weisen aufgrund der empirischen Befunde vor allem drei Merkmale des Erziehungsverhaltens der Eltern auf eine Beziehung zum Substanzmissbrauch hin: Gleichgültigkeit, Verständnislosigkeit, Überbesorgtheit der Mutter und Inkonsequenz im Verhalten der Eltern, was sich auch in neuester Zeit bestätigt hat (Shedler & Block, 1990).

  • Konsum der Eltern und Geschwister
    Als Risikofaktor gelten auch Eltern, die selbst Alkohol oder andere Drogen zu sich nehmen und auch eine positive Einstellung gegenüber dem Konsum vertreten (Johnson et al., 1984; Hornung et al., 1983; Kandel, 1982;). Homung et al. zeigten auch, dass der Konsum der Geschwister ein ausschlaggebender Faktor ist, die Zahl der konsumierenden Geschwister nahm in ihrer Untersuchung mit der Konsumintensität deutlich zu.

  • "broken-home"
    Eine Vielzahl von Untersuchungen belegen (Lazarus, 1980; Berger, 1981; Hornung et al., 1983) und widerlegen aber auch (Wormser, 1973) die These, dass Drogenkonsumenten häufiger aus unvollständigen Familien kommen, sei es durch Trennung oder Scheidung der Eltern oder durch Tod der Eltern oder eines Elternteiles.  

Peer-Group als Risikofaktor (nach oben)

Aus wissenschaftlicher Sicht besteht die einhellige Meinung, dass einer der stärksten Prädiktoren für das Auftreten von Drogenkonsum bei Jugendlichen das Drogenkonsumverhalten der Jugendlichen in deren unmittelbaren Umgebung ist (DuPont, 1989; Lopez & Fuchs, 1990; Jessor et al., 1980; Kandel et al., 1978). Das Risiko liegt einmal in der Auswahl von Freunden, die Drogen konsumieren. Es ist besonders groß, wenn die Tendenz besteht, sich eher an Gleichaltrigen als an Erwachsenen zu orientieren. Hinzu kommt ein erhöhtes Risiko für Jugendliche mit drogenkonsumierenden Geschwistern.

In der Untersuchung von Swaim et al. (1989), die weiter oben im Zusammenhang mit emotionalem Stress als Risikofaktor bereits erwähnt wurde, hat sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Einfluss der Peer-Gruppe und dem Konsum von Drogen ergeben. Wenn ein Jugendlicher einer Gruppe von Gleichaltrigen angehört, in der Drogen genommen werden bzw. Drogenkonsum unterstützt wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er selbst Drogen nehmen wird.  

Soziale Strukturen als Risikofaktoren (nach oben)

  • Schichtzugehörigkeit
    Die soziale Herkunft galt lange Zeit als Prädiktor für Substanzmissbrauch (Berger et al., 1980), was sich jedoch nicht in jeder Studie nachweisen ließ. Eine Recherche von Hanel (1991) hat ergeben, dass die heutigen Konsumenten in der BRD in bezug auf ihre Herkunftsfamilie einen Querschnitt der Bevölkerung darstellen. Die Situation im europäischen Ausland unterscheidet sich leicht, hier konzentrieren sich die Konsumenten auf die Mittel- und untere Mittelschicht. Untersuchungen in den USA haben ergeben, dass Kinder, die in extremer Armut und Deprivation aufwachsen, hochgefährdet in Bezug auf späteres delinquentes Verhalten und Substanzgebrauch sind (DuPont, 1989; Famngton, 1985).

  • Kulturzugehörigkeit
    Ein weiterer Einflussfaktor auf den Lebensstil und entsprechend auch auf das Gesundheitsverhalten des Einzelnen stellt die jeweilige Kultur dar. "Kulturen bestimmen nicht nur Entwicklungsaufgaben für spezifische Lebenssituationen und präformieren damit gesellschaftlich differentiell verteilte Spannungspotenziale, sondern sie geben auch die Art und Weise vor, wie man sich an Spannungen anzupassen hat" (Müller & Spinatsch, 1988). In diesem Zusammenhang wurde 1986 in der Schweiz eine repräsentative Umfrage an ca. 3.000 Schulkindern im Alter von 10 bis 16 Jahren durchgeführt. Ziel der Untersuchung war es, kulturell bedingte Differenzen im Lebensstil von Heranwachsenden aufzuzeigen, wobei die drei Sprachregionen der Schweiz, die auch geografisch klar voneinander abgegrenzt sind, als drei unterschiedliche Kulturen mit ähnlichen Strukturen definiert wurden. Unter anderem kamen die Autoren zu dem Ergebnis, dass bei Alkoholkonsum und Rauchverhalten hochsignifikante Interaktionseffekte zwischen Kultur, Geschlecht und Alter bestehen. So zeigte sich, dass in der französischen Schweiz der Anteil starker Zigarettenkonsumenten zwischen 12- und 10-jährigen Schülern beider Geschlechter mit zunehmendem Alter stetig und linear von 5% auf 27% ansteigt. In der deutschen Schweiz dagegen existiert noch bei den 14-Jährigen (in der Hauptsache bei den Mädchen) ein geringer Anteil an regelmäßigen Rauchern (< 5%), wohingegen in der italienischen Schweiz bereits 10% aller 13-Jährigen regelmäßige Raucher sind. Ein ähnlicher kulturbezogener Trend war auch in Bezug auf den Alkoholkonsum feststellbar, wobei in allen Altersstufen in der Regel die Jungen unter den Alkoholkonsumenten zu finden waren. Dieser Befund bestätigt eine frühere Untersuchung Müllers (1983) über kulturell variierende Trinkmuster Erwachsener.  

Suchtprotektive Konzepte (nach oben)

Während der letzten zehn Jahre wurde das Konzept der "protektiven Faktoren" besonders im Bereich der psychiatrischen Risikoforschung angewandt (Rutter, 1990; Garmezy, 1985). Als Schutz- oder protektive Faktoren sind hier Bedingungen zu verstehen, die eine Person davor bewahren, eine bestimmte Krankheit bzw. negative Verhaltensweisen wie zum Beispiel Substanzmissbrauch zu entwickeln. Dem Konzept liegt die Beobachtung zugrunde, dass die Reaktionen verschiedener Personen unter den gleichen Einflüssen wie z.B. Stress, Milieu oder Unglücksfälle auf einem breitem Spektrum stattfinden: einige nehmen überhaupt keinen Schaden, andere werden schwer geschädigt. Obwohl dieser Sachverhalt schon vor langer Zeit bemerkt wurde (Ainsworth, 1962), rückte er erst relativ spät in den Blickpunkt des Forschungsinteresses, als sich herauskristallisierte, dass die protektiven Faktoren eine Schlüsselfunktion im Verständnis der Risikoprozesse haben und wesentliche Implikationen für Prävention und Intervention haben könnten.

Es ist derzeit unklar, in welcher Relation protektive Faktoren und Risikofaktoren stehen. Es scheint allerdings so zu sein, dass sie sich nicht gegenseitig ergänzen. Das heißt, eine geringe Ausprägung von Risikofaktoren schützt nicht automatisch vor negativen Folgen des Drogenmissbrauchs - vielmehr muss eine positive Ausprägung protektiver Faktoren hinzukommen. Die Frage nach den protektiven Faktoren muss in drei Aspekte untergliedert werden: Was sind protektive Faktoren, wie werden sie erworben (oder vererbt) und wie schaffen es Individuen, einzelne protektive Faktoren wie zum Beispiel ein großes Selbstvertrauen trotzdem zu erhalten, auch wenn im Verlauf des Lebens extreme Widrigkeiten zu bewältigen sind, die andere Personen zur Aufgabe und Hoffnungslosigkeit bewegen?

Rutter (1990) kommt unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Forschungsstands zu folgenden Mechanismen von protektiven Prozessen:  

Minimierung der Risikoeinwirkung (nach oben)

Diese kann erfolgen entweder durch Änderung der Bedeutung des Risikos, was heißt, dass nicht jeder Risikofaktor ein Absolutum darstellt, das unabhängig von der Beurteilung oder den Erfahrungen des Individuums ist. Risiko kann relativiert werden, wenn es, einmal erlebt, mit positiven Erfahrungen gekoppelt wird. Die zweite Möglichkeit der Risikominimierung liegt darin, dass die Möglichkeiten, dem Risiko ausgesetzt zu sein, gering gehalten werden, z. B. wenn Eltern ihre Kinder von "schlechten Freunden" fernhalten.

  • Verhinderung von negativen Kettenreaktionen
    Oft ist nicht die Risikoeinwirkung der eigentliche Schadensverursacher, sondern das, was im Anschluss daran passiert. So hinterlässt z.B. nicht der Verlust eines Elternteils einen bleibenden Schaden bei dem betreffenden Kind, sondern die institutionalisierte Fürsorge, die sich in manchen Fällen daran anschließt (Brown et al.; 1986).

  • Förderung des Selbstvertrauens und der Selbstwirksamkeitserwartung
    Es gibt empirische Evidenzen über protektive Wirkungen, wenn ein Individuum sich selbst wertschätzt und von seiner Fähigkeit, mit den Anforderungen Lebens fertig werden zu können, überzeugt ist. Einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung dieser Fähigkeiten leisten sichere und unterstützende persönliche Beziehungen, was bereits durch Studien aus dem Bereich der Stress-, Coping- und Social-Support-Forschung belegt ist (Cohen & Syme, 1985; Franz, 1986; Lösel et al., 1988; Hurrelmann, 1988). Ein weiterer Faktor für die Entwicklung von Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeitsgefühl ist der Erfolg bei der Bewältigung von Aufgaben, die eine Person für sich selbst als wichtig einschätzt.  

Eröffnung von Möglichkeiten (nach oben)

Dieser protektive Prozess wird wirksam an Wendepunkten im Lebens eines Menschen. Eine richtige Entscheidung, eine erfolgreiche Bewältigung einer Aufgabe ermöglicht eine Vielzahl von Wegen, die nun beschritten werden können. Es gibt noch nicht viele, aber immerhin einige Längsschnittstudien, die Aufschluss über die Art und Wirkung von protektiven Faktoren geben. Nur mit Hilfe dieses Untersuchungsdesigns können hierzu plausible Aussagen gemacht werden. Werner & Smith (1982) verfolgten den Lebensverlauf von ca. 650 hawaianischen Kindern über den Zeitraum von 18 Jahren, d. h. die Mütter wurden schon interviewt als sie schwanger waren. Ziel der Studie war es unter anderem Aufschluss darüber zu gewinnen, wie die Kinder im Verlaufe ihrer Entwicklung mit Stressfaktoren umgehen und welche protektiven Faktoren die Kinder innerhalb der Person und extern in der Umwelt schützen. Die Kinder kamen fast ausnahmslos aus sehr armen Familien, mit Vätern, die als ungelernte Arbeiter ihr Geld verdienten und Müttern, die vorzeitig die Schule verlassen hatten. Somit wurden die Kinder von den Autoren als Risikokinder klassifiziert. Eines von zehn Kindern aus der Stichprobe konnte am Ende des Untersuchungszeitraum eine positive Entwicklung zu einem kompetenten und autonomen Individuum aufweisen. Im Verlauf ihrer ersten 18 Lebensjahre waren sie selten ernsthaft krank, und wenn ja, dann wurden sie schnell wieder gesund. Ihre Mütter erlebten sie als sehr aktiv und sozial verantwortungsbewusst, als sie Kinder waren. Entwicklungspsychologische Tests im zweiten Lebensjahr ergaben, dass sie ausgeprägte Fähigkeiten zur Selbsthilfe hatten, im mittleren Kindesalter wiesen sie adäquate Problemlöse- und Kommunikationsfähigkeiten auf. Im späteren Jugendalter war ihr Selbstkonzept positiver und ihre Lebenseinstellung verantwortungsvoller und leistungsorientierter im Vergleich zu ihren Altersgenossen mit ernsthaften Coping-Problemen. Mit 18 Jahren zeigten sie großes Interesse sich selbst weiterzuentwickeln. Als protektive Faktoren in der Umwelt der Kinder erwiesen sich das Alter des gegengeschlechtlichen Elternteils (junge Mutter für Jungen, älterer Vater  für Mädchen), die Anzahl der Geschwister (vier oder weniger); der Altersabstand zwischen den Geschwistern (mindestens zwei Jahre); die Anzahl und die Art von weiteren Bezugspersonen innerhalb des Haushalts (Vater, Großeltern, ältere Geschwister); die Arbeitsbelastung der Mutter; das Ausmaß der Aufmerksamkeit, die die Bezugspersonen dem Kind schenkten; Struktur und Regeln im Haushalt während der Jugendzeit; der Familienzusammenhalt; die Anwesenheit von Bekannten und Freunden aller Generationen; die kumulative Anzahl von chronischen stressreichen Lebensereignissen während Kindheit und Jugend, die alle gut bewältigt wurden.

Eine Studie, deren Ergebnisse auch unter dem Aspekt der protektiven Faktoren interpretiert werden können, ist die weiter oben bereits erwähnte Längsschnittuntersuchung von Shedler & Block (Shedler & Block, 1990), die den Zusammenhang von Drogenkonsum, Persönlichkeitsmerkmalen und Erziehungsstilen analysiert. Shedler & Block fanden heraus, dass sich das Erziehungsverhalten der Eltern der abstinenten, der experimentierfreudigen und der regelmäßig konsumierenden Jugendlichen signifikant unterscheidet. Im Vergleich zu den Müttern der Experimentierer zeigten die Mütter der Konsumenten sich feindlich,  nicht spontan im Umgang mit dem Kind, ohne Gespür für dessen Bedürfnisse,  underprotective, Druck ausübend und verkehrten oft eine ursprünglich erfreuliche Interaktion in eine unerfreuliche. Ähnliche Merkmale wiesen auch die Mütter der Abstinenten auf. Die Väter unterschieden sich im ersten Fall kaum voneinander, während die Väter der abstinenten Jugendlichen sich als sehr autoritär und dominant erweisen.

Quelle: Expertise zur Primärprävention des Substanzmißbrauchs
Band 20 Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit

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